Die Palmsonntagsprozession in der DDR
Gerade in den Zeiten der deutschen Diktaturen verlor die
Heiligenstädter Palmsonntagsprozession nie an Anziehungskraft.
Gestern Nachmittag Viertel vor zwei. In
dumpfen, andächtigen Schlägen rufen in Heiligenstadt die Glocken von
"St. Marien" zur großen Palmsonntagsprozession. Aus allen
Himmelsrichtungen strömen die Gläubigen in die obere Lindenallee und zum
Heimenstein, um Aufstellung zu nehmen bei den aus dem 16. Jahrhundert
stammenden Passionsbildern. Sie kommen aus dem ganzen Eichsfeld und
weiter her, darunter die Eichsfelder Priesterschaft, auch einige
evangelische Pastoren, die Ordensleute aus den Kongregationen im
Eichsfeld, unter ihnen Generaloberin Sr. Aloisia von den
"Heiligenstädter Schulschwestern", deren Hauptsitz wieder in
Heiligenstadt ist, und zehn Ritter vom Heiligen Grab. |
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Bei strahlendem Sonnenschein gehen insgesamt 7247
Gläubige - so hat G. Heinevetter gezählt - diesmal im Gedenken an Jesu
Tod und Auferstehung die Leidensprozession mit; im vorigen Jahr waren es
5528 Teilnehmer. Vieltausendstimmig erschallen die uralten
Passionslieder. Auf dem Weg durch die Innenstadt - Tausende säumen die
Wilhelmstraße - führen die Gläubigen die sechs lebensgroßen
Passionsbildnisse mit: das letzte Abendmahl, Jesus betet im Ölberg, die
Verspottung, die Kreuzigung, die Schmerzhafte Mutter, das Hl. Grab.
Bilder des Schmerzes, auf die in seiner Predigt während der
Abschlussandacht mit Verweis auf die aktuelle Lage Pfarrer Heribert Kiep
den Blick lenkt. |
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Kiep nennt Namen, mit denen sich Krieg und Gewalt
verbinden: Bagdad, Basra, Frankfurt, Eschweiler. "Wir stehen hilflos
Kriegen und Gewalt gegenüber", räumt er ein. "Doch: Die Zeit zu
beginnen, ist jetzt da, wo wir leben Frieden zu schaffen. Jetzt ist die
Zeit, Frieden zu Leben." Frieden fange da an, wo es gelinge, das Wort
Dialog nicht zum Fremdwort werden zu lassen und dort, wo man der
Wahrheit Raum gebe. Wie schnell könne man, so Kiep, heute Menschen durch
Unwahrheiten ins Abseits stellen, sie festnageln. "Auch 14 Jahre nach
der Wende gelingt es schnell, einen Menschen zu verurteilen, indem
Meldungen über die Vergangenheit in die Welt gesetzt werden. Meistens
von Menschen, die nie unter den Bedingungen einer Diktatur leben
mussten, teilweise durch Menschen, die einem System gefolgt sind und
jetzt meinen, noch eine Rechnung offen zu haben", so Kiep. |
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Der Pfarrer von "St. Gerhard" warnt vor
Pauschalierungen wie die Politiker, die Kirche, die Jugend. Denn mit
solch Pauschalurteilen fange Unfrieden an. Jetzt sei vielmehr die Zeit,
Gutes zu sehen. Nicht alle Politiker würden versagen, sondern viele sich
auch für das Wohl von uns allen einsetzen. Frieden sei nicht
selbstverständlich. "Doch für Christen ist es das Gebot der Stunde,
Frieden zu leben, für den Frieden zu beten. Lasst uns anfangen Menschen
zu sein, die die Wahrheit suchen und so Frieden bauen!", ruft Kiep den
Gläubigen zu. |
So war die Anwesenheit und insbesondere das aktive
Mitwirken am Leidenszug "stille" Kritik - aber auch spürbarer Protest -
gegenüber der SED und ihren Funktionären. Aus diesem Protest schöpften
die Menschen Hoffnung für das Meistern des häufig schwierigen Alltages
in der DDR.
Die Fotografie ist Teil der Foto- und Diasammlung des Archivs des
Bischöflichen Geistlichen Kommissariats Heiligenstadt, die neben den für
die eichsfeldische Heimatgeschichte so überaus aussagekräftigen
Aktenbestand zur Benutzung einlädt. |
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Maik Pinkert, gekürzte Wiedergabe
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